Wir fürchten uns davor aggressiv zu werden, wenn wir uns streiten. Denn wir wissen, wie mühevoll es ist ungestüme Gefühle zu zähmen. Aggressiv zu werden, ist, als würden wir aus einem Polo in einen Ferrari umsteigen. Nicht ahnend welche Kraft sich entwickelt, wenn wir das Gaspedal treten. Der Schub, der uns erfasst, macht uns zu potentiellen Mördern. Weshalb?
Am Anfang jeder Gewalt steht die Angst “nicht dazuzugehören”. Wenn wir Joachim Bauer in seinem Buch Schmerzgrenze folgen, dann ist Fairness und gegenseitige Achtung die Basismotivation sozialen Handelns. Nach Joachim Bauer war das „Aussetzen“ bzw. „Ausgrenzen“ in Jäger und Sammler-Tagen ein Todesurteil. Ein Mensch konnte damals nicht alleine überleben. Wir möchten nicht unfair behandelt werden und wir fürchten uns davor ausgeschlossen zu werden. Wir möchten gesehen werden, mitmachen und Wertschätzung erfahren. Sollte dieses Bedürfnis nicht befriedigt werden, dann wächst in uns eine Unruhe, die unseren ganzen Körper in Reaktionsbereitschaft versetzt.
Ausgrenzung tut weh, sie schmerzt wie körperliche Gewalt, denn das Gehirn unterscheidet nicht zwischen diesen beiden Arten von Gewalt. Beide Erfahrungen werden auf neuronaler Ebene ganz ähnlich verarbeitet.
Aggression ist eine Verhaltensbereitschaft, um in gefährlichen Situationen angemessen zu reagieren. Dabei wird der Körper von Hormonen überschwemmt. In solch einem Zustand können Konflikte nicht mehr angemessen bzw. erfolgreich gelöst werden. Die Aggression will das auch gar nicht, sondern sie stellt den Körper darauf ein, das Überleben zu garantieren, zur Not mit gewaltvollen Mitteln. Zeitgemäß? Offensichtlich nicht, denn wir sind viel öfters aggressiv, als wir um unser Leben bangen müssten.
Aggression ist eine Reaktion auf das Verhalten eines anderen Menschen. Wenn uns jemand beleidigt, wir entlassen oder “entfreundet” werden, jemand uns einfach nicht verstehen möchte oder sich jemand vordrängelt, kann dies Aggressionen provozieren. In jedem dieser Fälle könnten wir „jemanden empfindlich verletzten“, wenn wir nicht gelernt hätten unsere aggressiven Impulse zu kontrollieren.
Aggression fordert uns dazu auf, etwas zu tun, denn die Überflutung von Hormonen hindert uns daran, sofort zum Alltäglichen zurückzukehren. Die Aggression verschwindet nicht einfach, wenn wir ihr das befehlen. Entweder wir streiten mit unserem Gegenüber oder verschieben die Wut auf Schwächere, weil der Chef eine Nummer zu groß ist. Die meisten verlagern den Konflikt nach innen, sie richten die Wut gegen sich selbst, was zu Depressionen, autoaggressivem Verhalten führen kann oder im schlimmsten Falle suizidale Impulse wachruft.
Aggression hat eine kommunikative Funktion. D.h. es ist eine äußerst emotionale Art Nein zu sagen! So nicht! Nicht mit mir! Ich möchte nicht, dass du dich so verhältst. Es tut mir weh, wenn du mir in dieser Art und Weise begegnest. Ich möchte als gleichwertiges Mitglied dieser Gemeinschaft gesehen werden.
Betrachten wir diesen klassischen Beziehungskonflikt:
Frau genervt zum Mann: “Kannst du deinen Pullover denn nicht sofort in den Schrank räumen, wenn du ihn ausziehst? Wie oft muss ich dir das sagen?”
Der Mann wird darauf hin aggressiv und brüllt die Frau an: „Offensichtlich, kann ich das nicht und überhaupt, hör auf mich wie ein Kind zu behandeln!“
Die Frau schreit: „Naja, wenn du dich wie ein Kind verhältst, dann kann ich nicht anders!“
Der Mann brüllt: „Naja, ich habe eben Wichtigeres zu tun, als deinen dummen Regeln zu folgen.“
Was passiert in solchen Situationen? Weshalb wird in uns eine Verhaltensbereitschaft aktiviert, die zum Töten befähigen könnte, wenn uns jemand lediglich zu etwas auffordert?
Ausgrenzung geschieht nicht nur dann, wenn Schüler einen Mitschüler mobben, ihn aus der Klassengemeinschaft ausschließen, sondern auch dann, wenn der Betroffene eine Aktion oder etwas Gesagtes als Ausgrenzung „erlebt“. Die Bewertung einer Situation als potentiell gefährlich ist eine sehr private Angelegenheit und ist stark mit den bislang gemachten Lebenserfahrungen assoziiert.
Der Mann in unserem Beispiel fühlt sich von der Frau ausgegrenzt – sie entfernt ihn durch ihr mütterliches Verhalten aus der Paarbeziehung. Durch die Art und Weise, wie die Frau ihren Appell formuliert, entsteht ein Graben, den die beiden aktuell nicht überwinden können. Die Frau verwandelt durch Ihren Appell die Augenhöhe, die in einer Paarbeziehung notwendig ist, in ein Machtgefälle. Dies erlebt der Mann als Beziehungsverrat.
Das Gleiche geschieht mit der Frau, auch sie fühlt sich ausgegrenzt, weil sie das Verhalten des Mannes – den Pullover liegen zu lassen und nicht wegzuräumen – als Ausstieg des Mannes aus der Paarbeziehung wertet. Die Frau fühlt sich dadurch entwertet und ausgeschlossen – das sich in destruktivem Verhalten äußern könnte.
Wer sich ausgegrenzt fühlt, der muss sich mit der Angst auseinandersetzen „ausgesetzt“ zu werden.